Vielfalt und Toleranz – Sundern kann’s
In der alten Molkerei in Sundern (Sauerland) wurden gerade noch mehr Stühle geholt. Knapp hundert Personen sitzen im Saal, wo gleich der Film „Meine Familie, die Nazis und ich“ gezeigt wird. Im Anschluss steht eine der Protagonist*innen des Filmes für ein Gespräch mit dem Publikum zur Verfügung: die Autorin und Historikerin Katrin Himmler, Großnichte des Reichsführers SS und Organisators des Holocausts, Heinrich Himmler.
Der Abend ist der letzte einer Veranstaltungsreihe, die das Bündnis für Vielfalt und Toleranz in der Stadt Sundern organisiert. „Jedes Mal mussten wir mehr Stühle holen!“, freut sich Irmgard Harmann-Schütz, eine unserer Ansprechpartner*innen aus dem Bündnis. Für dieses allererste Event der Veranstaltungsreihe nahm sich das Bündnis den Gedenktag an die Reichspogromnacht am 9.11.1938 zum Anlass. Dass sämtliche Veranstaltungen so gut besucht waren, bestärkt das relativ neu gegründete Bündnis in ihrem Vorhaben. „Es sind Menschen hierher gekommen, die man noch gar nicht kannte“, bemerken Irmgard und ihr Bündniskollege Serhat Sarikaya. In der Kleinstadt mit 3000 Einwohner*innen sei auch das ein wichtiges Zeichnen, dass sich da gerade etwas bewege. „Ich merke, dass ich als Teil des Bündnisses als Person wahrgenommen werde und aus dieser Position heraus eher Menschen für Sachen gewinnen kann, als wenn ich das als Politikerin versucht habe“, sagt Irmgard.
Mehr als 100 Personen in der alten Molkerei
Auf dem Weg zur Veranstaltung erzählt Sehrat die Geschichte des Bündnisses. Ein Sunderaner sei im letzten Jahr an seiner Schule rassistisch gemobbt worden. Daraufhin schaltete sich eine Person ein, die dabei eine Notwendigkeit für antirassistische Arbeit in Sundern erkannte. Ihre Initiative traf auf eine andere, die zum 80. Gedenktag an die Pogromnacht etwas organisieren wollte. Kurz danach nahm eine Person den Aufruf unseres Aktionsfonds zur Kenntnis und das frisch gegründete Bündnis stellte als allererste Aktion einen Antrag bei uns.
Jetzt sitzen also mehr als 100 Personen in der alten Molkerei und schauen sich den Film an. Im Film von Chanoch Ze’evi kommen Menschen vor, deren Eltern, Großeltern oder andere Familienmitglieder eine enorme Verantwortung für die Verbrechen des Nationalsozialismus tragen. Der Film zeigt sie dabei, wie sie mit dieser Vergangenheit umgehen. Es ist äußerst unangenehm, sie dabei zu beobachten und zuzuhören. Der Film kann übrigens hier online kostenlos gestreamt werden:
Nach der Pause wird Katrin Himmler gefragt, wie ihre Arbeit in ihrer Familie ankam. Katrin Himmler ist die Großnichte des Reichsführers SS und Organisators des Holocaust, Heinrich Himmler. Dies, und auch das, was er getan hatte, wusste sie schon immer, sagt sie. In der Recherchearbeit, woraus ihr Buch „Die Brüder Himmler: Eine deutsche Familiengeschichte“ entstand, setzte sie sich aber mit der Geschichte der gesamten Familie auseinander. Bis zu ihren Recherchen wurde in der Familie mit einer Version der Geschichte gelebt, in welcher Heinrich als Alleingänger dargestellt wurde. Mit ihrer Recherche enttarnte Katrin Himmler die Nazi-Überzeugung seiner Eltern und Brüder.
Im Film thematisierte Niklas Frank, ein weiterer Protagonist, die autoritäre, kühle Erziehung und die bedingungsvolle Liebe, die er von seinen Eltern bekommen hatte. Die Frage steht im Raum, inwiefern dieser Erziehungstil auch jenseits des engsten Kreises um Hitler verbreitet war – Menschen aus dem Publikum haben auch eine ähnliche Erziehung erlebt.
Am nächsten Vormittag liest Katrin Himmler in einer Schulaula aus ihrem Buch vor. Im Publikum sitzen ca. 200 Gymnasiast*innen und Realschüler*innen. Im Vergleich zum vorigen Abend wird sehr bald die Frage gestellt, inwiefern Parallelen zwischen damals und heute gezogen werden können. Es entwickelt sich ein Gespräch über individuelle Handlungsfähigkeiten: wie geht man gegen rassistische Äußerungen im eigenen Umfeld vor? Auch in Sundern lasse sich die neue Organisation der Rechten Kräfte und die neue Prägung ihrer Diskurse spüren, hatte mir Serhat am vorigen Abend erzählt – bisher vor allem „auf dem Papier“ und in sozialen Medien.
Die zwei Stunden gehen rasch um – es müsste bestimmt noch viel gesagt werden. Wahrscheinlich führen die Geschichtslehrer*innen, die die Veranstaltung mitorganisiert haben, die Diskussion im Klassenzimmer weiter. Das Bündnis wird auch aktiv bleiben. Einige Aktionen sind schon in der Planung, andere werden sich noch ergeben. „Dank der Förderung durch ViRaL sind wir als neues Bündnis an keinen festen Plan gebunden – wir können kurzfristig neue Partnerschaften schließen und unsere Aktionen so erweitern, das ist sehr hilfreich“, sagt mir Serhat.
Autorin: Lucile G.